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Dr. Jörg Heiler im Interview

3. November 2021

„Wir reißen zu viele Gebäude ab“

Jörg Heiler ist neuer Vorsitzender des Bundes Deutscher Architekten. Der Kempetener mahnt ganzheitliches, nachhaltiges Denken an. Und plädiert für Mehrfamilienhäuser

Herr Heiler, was sind die Herzensangelegenheiten, die Sie als BDA-Landesvorsitzender vorantreiben möchten?
Heiler: Angesichts von Klimawandel und der Frage nach dem zukünftigen Wohnen gibt es für uns Architekten viele gesellschaftsrelevante Aufgaben. Wir möchten Sorge tragen für diese Aufgaben und für diesen Planeten,  der sich wegen des Klimawandels in der Krise befindet. Aber umgekehrt können wir nur Sorge für all diese Aufgaben übernehmen, wenn wir Sorge tragen für uns und unsere existenziellen Bedürfnisse. Da gibt es im Moment riesige Fragestellungen und Probleme – etwa was unsere Honorierung und unseren Nachwuchs angelangt.

Viele Menschen verstehen unter Architektur und Baukultur die Ästhetik und Funktion von Gebäuden. Sie dagegen sprechen von Aufgaben für die Gesellschaft. Wie passt das zusammen?
Heiler: 40 Prozent des CO2-Ausstoßes in Deutschland hängen mit dem Bauen zusammen. Unsere Gebäude verbrauchen zu viel Energie, zu viel Material, zu viel Ressourcen. Das Bauen könnte also viel zur ökologischen Wende und für den Klimaschutz beitragen. Deswegen hat das eine hohe Gesellschaftsrelevanz. Natürlich geht es uns um die Schönheit und die Funktion einzelner Gebäude, aber auch um das Ökologische und das Soziale, um nachhaltige Siedlungsstrukturen und Flächenverbrauch. Das lässt sich in der Architektur nicht voneinander trennen.

Weiß auch die Gesellschaft, dass Architekten diese gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen? Oder müssen sie erst noch für Bewusstsein sorgen?
Heiler: Es ist nach wie vor viel zu tun und bleibt eine Sisyphus-Arbeit. Wobei sich im Allgäu durchaus Etliches getan hat in den letzten Jahren. Es ist eine andere Diskussion, ein anderes Bewusstsein entstanden. Ich sehe einen neuen Schwung. Auf der anderen Seite reißen wir nach wie vor in unserer Region zu viel Gebäude mit einem hohen kulturellen und geschichtlichen Wert ab. Wir müssen noch sorgsamer mit dem Bestand umgehen.

Hinsichtlich der Nutzung von alten Gebäuden für neue Zwecke haben Sie ja zusammen mit Ihrem Büropartner Peter Geiger gerade einen vorbildlichen Bau in Memmingen realisiert, die „Kita Karoline Goldhofer“, die für Aufsehen in der Fachwelt sorgte und etliche Preise erhielt.
Heiler: Wir haben die graue Energie, also den Bestand, genutzt, aber auch die Geschichte des Gebäudes bewahrt. Dadurch zeigten wir den Wert des Bestehenden. Und schufen neue Räume für Soziales. Wir müssen wegkommen von einem linearen Prozess des Herstellens, Verwendens und Wegwerfens hin zu einem zirkulären Prozess. Bestandsbauten müssen keine Last sein, sondern sie sind ein Potenzial – für Identitätsstiftung, als Zeitzeugnis, als Ressource für Nachhaltigkeit und für sorgsamen Umgang mit Energie und Material.

Was ist in der Baukultur des Allgäus gut? Und wo gibt es Defizite?
Heiler: Die Menschen im Allgäu identifizieren sich mit dieser Region. Da ist eine Identifikation mit einem Kulturraum gewachsen, wo man gerne lebt, der ein riesiges Potenzial und eine wirtschaftliche Dynamik besitzt. Aber aufgrund der positiven wirtschaftlichen Dynamik haben wir im Allgäu mit den höchsten Flächenverbrauch in Bayern und damit einen hohen Verlust an wertvollen Böden und Flächen.

Was können Architekten und Planer dagegen unternehmen?
Heiler: Es wäre eine ganzheitliche, integrierte Planung nötig, die die Dinge nicht separat denkt, sondern Mobilität, Wohnen, Gewerbe und Tourismus endlich zusammen denkt, zusammen plant, zusammen entwickelt.

Haben Sie Hoffnung, dass das geschehen könnte? Die Politiker und die Menschen, die hier leben, müssten umdenken.
Heiler: Ich glaube schon. Weil das Bewusstsein steigen wird, dass die ökonomischen und ökologischen Folgekosten zu hoch sein werden für die nahe Zukunft und die nächste Generation. Es wird einen großen Schub geben, die Dinge zu verändern.

Gibt es dafür schon Anzeichen?
Heiler: Das hängt eng mit der Landesentwicklung für ganz Bayern zusammen. Darin wird eine ganzheitliche, sektorenübergreifende Planung gefordert – die wir aber aktuell nicht haben. Unser Verband mahnt – zusammen mit vielen gesellschaftlichen Gruppen und weiteren Verbänden – ganz klare Leitplanken für den Flächenverbrauch an. Also verbindliche Deckelung auf fünf Hektar Verbrauch pro Tag. Momentan liegen wir in Bayern bei elf Hektar.

Eine andere Diskussion im Zusammenhang mit Flächenverbrauch hat sich an den Einfamilienhäusern entzündet. Sind sie ein Auslaufmodell? Oder sollten sie es sein?
Heiler: Das ist eine sehr komplizierte Diskussion. Ja, Einfamilienhaus-Gebiete werfen Fragen auf und machen Probleme – der höhere Flächenverbrauch, die zusätzliche Infrastruktur für Straßen und Leitungen, der höhere Bedarf für Material und Energie. Aber durch Verbote und ideologische Diskussionen kommen wir nicht weiter. Es braucht Argumente.

Und welche wären das?
Heiler: Wir müssen den Leuten zeigen, dass man auch beim mehrgeschossigen Wohnungsbau eine hohe Attraktivität und eine hohe Qualität schaffen kann. Für Familien ist das zudem günstiger angesichts der aktuell hohen Baupreise. Es kann durchaus so gebaut werden, dass viel Individualität und Freiraum möglich ist – mit ökonomischen und sozialen Vorteilen. Es gibt schon viele Beispiele für gemeinschaftliches Wohnen mit hoher Qualität. Etwa indem man Freiflächen auf Dachterrassen schafft. Oder einen gemeinsamen Garten für urban gardening. Oder man richtet in einem Mehrfamilienhaus Räume zum Anmieten für Gästezimmer und gemeinschaftliche Aktivitäten ein.

Aber gerade im Allgäu träumen immer noch viele Menschen von einem Einfamilienhaus. Und die Politiker geben diesen Wünschen gerne nach.
Heiler: Das ist der Druck des Wählers, der an die Politik weitergegeben wird. Aber es gibt schon eine Bewusstseinsänderung. Beispielsweise hat die Gemeinde Haldenwang mittels eines Wettbewerbs entschieden, mitten im Ort mehrgeschossigen Wohnungsbau für Familien zu entwickeln. Ähnliches ist für die Ortsmitte von Probstried geplant. Es gibt also Ansätze und Beispiele, wo sich die Politiker Anregungen holen können.

Umstritten sind die Gestaltungsbeiräte. Viele Allgäuer Dörfer und Städte meinen, darauf verzichten zu können. Was sagen Sie denen?
Heiler: Inzwischen gibt es einige Gestaltungsbeiräte. Durch sie kommt eine zusätzliche Expertise in die politischen Entscheidungen. Das kann einen Schub von hoher Qualität für die gemeindliche und städtische Entwicklung bedeuten.

Sollte also jede Kommune einen Gestaltungsbeirat zu Rate ziehen?
Heiler: Absolut. Gestaltungsbeiräte sind eine Erfolgsgeschichte.

Interview: Klaus-Peter Mayr

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© mit freundlicher Genehmigung der Allgäuer Zeitung
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